Martin Walser: gestenreich-spannende Sprechinszenierung

Der achte Kampener Literatursommer ist eröffnet. Und kein Geringerer als Martin Walser (78) brachte aktuelle Literatur auf das Podium des Kaamp-Hüs. Der kontrovers diskutierte Autor las aus seinem zuletzt erschienen Buch „Der Augenblick der Liebe“ – leidenschaftlich und begeisternd.


Literarischer Virtuose: Martin Walser nach der Sylter Lesung beim Signieren im Kaamp-Hüs. Foto: Jakat


Westerland/Sylt (Angelika Jakat) - Lautes, aufgeregtes Stimmengewirr gepaart mit gespannter Neugierde bestimmte am Donnerstagabend kurz vor halb neun die Stimmung im Kaamp-Hüs. Kein Geringerer als eine der deutschen Literaturikonen des 20. Jahrhunderts wurde erwartet, um den achten Kampener Literatursommer zu eröffnen: Martin Walser.

Entsprechend groß war der Andrang auf die mehr als 300 Plätze, von denen an diesem Abend keiner unbesetzt bleiben sollte. In einer sehr persönlich gehaltenen Begrüßungsrede bekundete Kampens Tourismus-Direktorin Birgit Friese offen, dass mit der literarischen Sylt-Stippvisite von Walser, für sie ein „Herzenswunsch“ in Erfüllung gegangen sei.

Auf äußerst bedachte Art war der 78-Jährige dann an das Rednerpult getreten, woraufhin er zunächst einen eifrigen Insel-Fotoreporter mit einem abwehrend knappen „nicht mehr“ in seinem Wirken stoppte.
Doch trotz anfänglicher Irritationen lief Martin Walser in seiner nachfolgenden einstündigen Lesezeit zu wahrer Hochform auf. Seine Zuhörerschaft erlebte bei der Vorstellung des 2004 im Rowohlt Verlag erschienen Buches „Der Augenblick der Liebe“ einen expressiven Autor mit hohem Unterhaltungswert. Der verstand es, seinen melodisch gestalteten Vortrag als gestenreich untermalte, mitreißende Sprech-Inszenierung auszubauen. Quer durch die drei Buchkapitel „Kommen aber gehen“, Zusammenfinden“ und „Auseinanderkommen“ begeisterte der Georg-Büchner-Preisträger von 1981 seine Zuhörer mit subtilem Sprachwitz und meisterlich beschriebenen Seelenstudien, die inhaltlich verankert sind in Momenten einer beginnenden Liebesaffäre zwischen dem alternden Protagonisten Gottlieb Zürn und der vierzig Jahre jüngeren Beate Gutbrod.

Doch Walser würde sich selbst nicht gerecht, hätte er einen Roman nur über die dramatischen Seiten der Liebe geschrieben - mit all ihren emotionalen Desastern. Und so konfrontierte der Stimmkräftige seine Zuhörer zuletzt mit Auszügen aus dem dritten Kapitel des jüngsten Werks, die lebensphilosophische Auseinandersetzungen beschreiben im Rückgriff auf die Weltsicht des französischen Philosophen La Mettrie (1709-1751). Dabei behandelt Walser den Themenkomplex „Schuldgefühle“ im Kontext von „Völkermord“, „Gewissenskritik“ und was es bedeutet, wenn man im Ausland „zuerst ein Deutscher ist und erst dann, falls sein Ein-Deutscher-sein das noch zulässt, erst dann ein Mensch“.

Am Ende schloss der wirkungsstarke Autor die gelungene Lesung so jäh wie er dieselbe begonnen hatte. Das überraschte Publikum sah Walser seine Schroffheit nach und lies sich später von ihm im Foyer Bücher signieren.

(Erscheinungsdatum: Samstag, 02.08.2005/ Sylter Rundschau)

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